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Chef von Mitarbeiters Gnaden

Mathias Morgenthaler am Samstag den 15. Februar 2014
Marc Stoffel, basisdemokratisch gewählter Chef bei Haufe-umantis.

Marc Stoffel, basisdemokratisch gewählter Chef bei Haufe-umantis.

Ohne das Einverständnis der Mitarbeiter wird niemand Chef bei der Haufe-umantis AG. Beim St. Galler IT-Unternehmen mit 150 Angestellten wählen die Mitarbeiter die Geschäftsleitung und das mittlere Management. Firmenchef Marc Stoffel sagt, es sei besser, wenn er nicht zu viel selber entscheiden müsse. Der 32-Jährige begann als Praktikant und ist heute Vorgesetzter des Firmengründers.

Interview:
Mathias Morgenthaler

Herr Stoffel, Sie wurden letzten Sommer von allen 100 Angestellten zum Chef der Haufe-umantis AG gewählt und sind nun im Amt bestätigt worden. Sind Sie der einzige basisdemokratisch legitimierte Chef der Schweiz?

MARC STOFFEL: Wir sind in dieser Hinsicht sicher eine Ausnahme, nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. Die Einzigen sind wir aber nicht. International sehr erfolgreiche Firmen wie Gore oder Semco setzen auf demokratische Verfahren bei der Wahl des Firmenchefs. Unser Ansatz ist insofern radikal, als tatsächlich jeder einzelne Mitarbeiter mitreden darf – nicht nur bei der Besetzung der obersten Chefstelle, sondern auch bei der zweiten Führungsebene.

Ist das nicht kontraproduktiv? Chefs sollen sich ja nicht in erster Linie bei ihren Mitarbeitern beliebt machen, sondern wenn nötig auch harte Entscheidungen fällen im Sinne des Unternehmens.

Es hängt alles vom Menschenbild ab, das in einem Unternehmen dominiert. Wenn Sie den Mitarbeiter als Arbeitsbiene sehen, der hauptsächlich wegen des Lohns zur Arbeit kommt und sich darauf beschränkt, die Vorgaben seiner Chefs zu erfüllen, dann brauchen sie darüber tatsächlich einen Vorgesetzten, der alles entscheidet und durchsetzt. Wir sind überzeugt, dass im Idealfall die Mitarbeiter das Unternehmen führen. Sie sind am Puls der Marktes, sie haben das Fachwissen. Aufgabe des Chefs ist es bei diesem Verständnis, ihnen Vertrauen zu schenken und dadurch Energie zu entfesseln, Leistung freizusetzen. Als CEO will ich nicht alles entscheiden, wichtiger ist, dass ich ein gutes Umfeld für unternehmerisches Handeln schaffe.

War die basisdemokratische Chefwahl ein Wagnis für das Unternehmen?

Dieses Wahlsystem ist nicht einfach ein Experiment, sondern die natürlich Weiterentwicklung unserer Art der Unternehmensführung. Vor drei Jahren, als die Frage im Raum stand, ob das Unternehmen an die deutsche Haufe-Gruppe verkauft werden soll, haben wir das ebenfalls basisdemokratisch entschieden. Es gibt keine bessere Entscheidung als die, in welche alle Betroffenen involviert sind.

Sie haben letzten Sommer den Mitgründer Hermann Arnold als Chef abgelöst. Er arbeitet nun unter ihnen als Verantwortlicher Produktmanagement. In einem Interview sagte er: «Ein mittelmässiger Chef, der das Team hinter sich hat, ist erfolgreicher als ein genialer, mit dem das Team nicht kann.» Sind Sie dieser mittelmässige Chef?

(Lacht) Ich hoffe nicht. Aber im Ernst: Mir ist völlig klar, dass ich nicht in jedem Fall die besten Entscheidungen fälle und dass ich in vielen Bereichen schlechter Bescheid weiss, als meine Mitarbeiter. Was ich in den acht Jahren, in denen ich hier vom Praktikant zum CEO aufgestiegen bin, gelernt habe, ist, mit Begeisterung zu führen und ein Team zu Höchstleistungen anzuspornen. Entscheidend ist, ob es mir gelingt, eine Vision zu entwickeln und ein klares Bild zu vermitteln, wo wir hinwollen. In den Details bin ich nicht besonders stark.

Dieses Modell der Führung und Chefwahl dürfte nur bei kleinen Unternehmen funktionieren.

Nein, das stimmt nicht. Schauen Sie sich die Entwicklung des brasilianischen Industrieunternehmens Semco an. Der Umsatz stieg in den letzten 30 Jahren von vier Millionen US-Dollar auf über fünf Milliarden Dollar. Das Erfolgsrezept beschrieb Geschäftsführer und Mehrheitseigner Ricardo Semler 1993 im Buch «Das Semco System – Management ohne Manager». Semler stand als überlasteter Unternehmenschef kurz vor einem Burnout. Statt weiterhin alle Macht an sich zu reissen, reduzierte er sein Pensum auf 80 Prozent und verschrieb dem Unternehmen eine demokratische Führung. Sobald eine Einheit die Grösse von 150 Mitarbeitern überstieg, schuf er neue, kleinere Zellen, die sich selber verwalteten. Diese Führungsstruktur hat dazu beigetragen, dass Semco in einem extrem schwierigen Markt sehr stark gewachsen ist.

Grosse Konzerne, die von einem starken Mann geführt werden, sind also anachronistisch?

Konzerne wie Apple, Microsoft oder auch Swisscom und Novartis waren mit diesem Modell sehr erfolgreich. Kurzfristig kann die sehr hierarchische Struktur viel Erfolg bringen, auf Dauer halte ich sie aber für problematisch wegen der Abhängigkeit von einer Person und der Konzentration der unternehmerischen Kompetenz auf wenigen Schultern. Mit zunehmendem Innovationsdruck und höherer Geschwindigkeit auf unseren Märkten werden sich Unternehmen und Führung verändern müssen. Flexibilität und Engagement werden wichtiger sein als Grösse und Macht.

Wie lief die Wahl des Firmenchefs und der Führungscrew bei Ihnen konkret ab?

Es geht nicht nur darum, sich für Person A, B oder C zu entscheiden, sondern das Ganze beginnt mit der Frage, wo wir hinwollen, was wir dafür brauchen und was wir voneinander erwarten. Deshalb macht jedes Team einen Businessplan für die nächsten drei Jahre. Auf dieser Basis werden mögliche Führungskräfte nominiert – man kann sich selber aufstellen, von Mitarbeitern vorgeschlagen werden. Zusätzlich können externe Lösungen vorgeschlagen werden. Dann stellt sich jeder Kandidat vor das Team und erklärt, wie er die Aufgaben erfüllen will und warum er der richtige ist. Schliesslich bewerten die Mitarbeitenden in einem anonymen Verfahren die Kandidaten und geben ihm gleichzeitig ein persönliches Feedback. Auch da haben wir nicht bei Null angefangen, denn es ist schon länger üblich, dass externe Bewerber vor der Einstellung das Team überzeugen müssen.

Wissen die Mitarbeiter wirklich am besten, was die Firma für Chefs braucht?

Wenn sie Vision, Strategie und Geschäftsplan kennen, dann ja. Ich war sehr positiv überrascht, denn natürlich war es eine sehr emotionale Phase und in gewisser Weise auch ein Experiment. Insgesamt haben sich 25 Kandidaten um 21 Führungspositionen beworben. Drei Stellen wurden extern besetzt, elf Vorgesetzte im Amt bestätigt, sieben Mitarbeiter ins Management befördert und eine Führungskraft wurde abgewählt.

Jene, die nicht berücksichtigt wurden, dürften das Unternehmen verlassen.

Nein, es ist uns gelungen, diese Mitarbeiter eng zu begleiten und ihnen eine Rolle zu geben, in der sie sich wohl fühlen. Es muss kein Gesichtsverlust sein, wenn man nicht Chef wird oder wieder eine fachliche Verantwortung übernimmt, zumal bei uns alle unternehmerisch denken und agieren. Diese Kultur hilft uns übrigens nicht nur, die besten Vorgesetzten zu finden, sondern auch, in einer umkämpften Branche die besten Fachleute zu finden. Wir sind im letzten Jahr enorm stark gewachsen, 60 Prozent der neuen Spezialisten haben unsere eigenen Mitarbeiter rekrutiert, weil sie engagierte und glaubwürdige Botschafter des Unternehmens sind. Wir haben in letzter Zeit viele Anfragen von anderen Unternehmen erhalten, die sich für unsere Art der Chefwahl und Rekrutierung interessieren.

Ihr Kerngeschäft ist die Entwicklung von IT-Lösungen für Personalentwicklung und Personalselektion. Ihr Beispiel zeigt doch gerade, dass man solch wichtige Prozesse nicht mit Informatik lösen kann.

Die Informatik ist nicht die Lösung, sondern ein wichtiges Hilfsmittel. Gerade in grossen Unternehmen ist es sehr anspruchsvoll, sicherzustellen, dass die richtigen Leute am richtigen Ort arbeiten und dass ihre Ideen erfasst und sichtbar gemacht werden. Wir sind zu einer Art Facebook für Unternehmen geworden und helfen mit, dass jeder einzelne Mitarbeiter einen maximalen Beitrag zum Unternehmenserfolg beisteuern kann. Allerdings ist jede IT-Lösung nur so gut, wie die Unternehmenskultur, in der sie zum Einsatz kommt.

Kontakt und Information:

marc.stoffel@haufe.com oder www.haufe.com

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9 Kommentare zu “Chef von Mitarbeiters Gnaden”

  1. J.Frieden sagt:

    Danke für diesen positiven Beitrag.So sollte ein Unternehmen geführt werden.das ist die Zukunft,so will ich arbeiten.
    Erfolg mit diesem Modell garantiert. Menschen wie Menschen behandeln kein Trend sondern ” eigentlich Normal”.Danke

  2. malibe sagt:

    Bravo dass es das gibt! Ein etwas anarchistischer und maoistischer Ansatz, der aber ein Modell für die Zukunft sein könnte. Damit wäre dann auch die Debatte um überrissene Managerlöhne und Boni vom Tisch, die ja trotz Minderinitiative weiterhin von den Aktionären abgesegnet oder durchgewunken werden. Ein wunderschönes und zukunftweisendes Konzept, das nicht nur mehr Effizienz hervorbringt, sondern auch das beste Rezept gegen Burnout ist. Und erst noch wenig zu Fluktuationen und damit zum Verlust von Knowhow führt. Weil endlich einmal der Mensch im Vordergrund steht.

  3. Pedro Reiser sagt:

    Ich bin mit Marc Stoffels Unternehmensphilosophie sehr einverstanden, bin aber erstaunt, dass Vision und Strategie nicht auch basisdemokratisch erarbeitet wurden. Als erster CEO von Novartis Japan nach der Fusion von Sandoz und Ciba-Geigy, habe ich dafür gesorgt, dass wir Vision und Strategie von unten nach oben erarbeiteten. Jedermann und -frau konnte am Ideen- und Entscheidungsprozess teilnehmen. Erstens erhielten wir viele kreative Impulse, zweitens identifizierten sich die Mitarbeiter-innen voll mit dem neuen Unternehmen und drittens fühlten sich alle extrem motiviert mitzuarbeiten. In einem Gespräch mit dem CEO von Toyota, sagte er mir, dass es in der Toyota-Kultur gar nicht möglich wäre, Vision und Strategie von oben herab zu diktieren. Dank dieser Kultur ist Toyota weltweit Nummer eins geworden.

  4. Tanner sagt:

    Das ist ein passender Beitrag zur Schweizer Demokratie, gegen die sozialdemokratische Gutmenschen nach dem Entscheid vom 9.2.14 Sturm laufen und vielleicht auch einen Kravall mit Sachbeschädigungen inszeniert haben. Dieser Beitrag kontrastiert auch bestens gegen das vermeintliche gut ausgebildete Demokratieverständis der EU, die auch die Schweiz auf Zentralismus umpolen will.

  5. Sehr schön, danke! Die direkte Demokratie hat in der Schweiz ja viele Freunde. Erstaunlich, dass dieses bewährte Konzept nur in der Politik aber nicht in den Unternehmen selbstverständlich ist.

  6. Naseweis sagt:

    Chef von Mitarbeiters Gnaden – dünkt mich jetzt schon etwas heftig ausgedrückt, aber für manchem Chef täte es gut ein wenig mehr Fingerspitzengefühl im Umgang mit seinen MitarbeiterInnen anzuwenden. Die Personen die an der Basis arbeiten und jeweils direkt von den “Konsequenzen” von Anordnungen betroffen sind, haben eher ein “Gspüri” für die Realität.
    Ich selbst habe Chef’s erlebt, direkt von der “Ausbildung”, von Tuten und Blasen keine Ahnung, aber mit gaaaanz viel Theorie im Kopf und von den Realitäten der wirklichen Arbeit sehr weit entfernt. Und das schlimmste, selbst nach den grössten flps seiner Anordnungen – kein bisschen Bereitschaft etwas von der Basis an zu nehmen.

  7. Roland Peier sagt:

    Schauen wir einmal, wie sich das Unternehmen konsolidiert und ziehen in einigen Jahren Bilanz. Wenn dies das Ei des Kolumbus wäre, hätte es sich schon vermehrt durchgesetzt. Am Ende zählt Umsatz und Gewinn in einem Unternehmen. – Ich halte von einem solchen Konzept nichts.

  8. @Peier 10:49: Und was halten Sie von diesem Konzept in der Politik? Wollen Sie die Demokratie abschaffen? Wenn nicht, wieso soll die Entscheidungsfindung hier anders organisiert sein als dort? Ist der mündige Bürger, der über Milliarden-Bauprojekte, über internationale Beziehungen, über die personelle Ausstattung von Parlamenten und Regierungen u.v.m. bestimmt, im Unternehmen plötzlich unfähig, vernünftige Entscheidungen zu treffen?

  9. @Peier 10:49: ausserdem: Das Unternehmen existiert seit 12 Jahren (von wegen konsolidieren und Bilanz ziehen in ein paar Jahren).