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«Der schnelle, kühle Denker hatte plötzlich nichts mehr im Griff»

Mathias Morgenthaler am Samstag den 13. Juli 2013
Michael Treina, Kinesiologe in Ausbildung

Michael Treina, Kinesiologe in Ausbildung


Nach einer Blitzkarriere, die ihn hinter die Kulissen der Wirtschaftselite blicken liess, geriet Michael Treina in eine Sinnkrise. Als dann auch noch eine Halbschwester auftauchte, von der er nichts gewusst hatte, wurde ihm klar, dass er sein Leben radikal ändern musste. Heute nimmt sich der 49-Jährige viel Zeit für seinen Sohn und für die Weitergabe seiner Erfahrungen. Download der PDF-Datei

Interview: Mathias Morgenthaler

Herr Treina, Sie waren im Alter von 36 Jahren Vize-Direktor bei Ernst & Young und europaweit als Unternehmensberater im Einsatz. Warum gerieten Sie in eine Krise?

MICHAEL TREINA: Ich hatte mich innert kurzer Zeit vom kantonalen Raumplanungsangestellten in einen «Golden Boy» verwandelt, wie die Amerikaner damals die jungen, gut bezahlten Profiteure der globalen Wirtschaft nannten. Zu Beginn fand ich es extrem spannend, hinter die Kulissen der grossen Unternehmen zu sehen, Zugang zu haben zu den Mächtigen und Reichen. Ich wurde aber auch in hohem Masse mit Gier, Doppelmoral und Machtspielen konfrontiert. Meist ging es primär darum, Gewinne zu maximieren – mitunter zum Nachteil der Gesellschaft. Diese Erfahrungen haben mir sehr zu schaffen gemacht, und ich hatte zunehmend Mühe, mich für meine Arbeit zu motivieren.

Was hatten Sie denn erwartet?

Ich hatte meine Matura in einer Klosterschule absolviert und zuhause in einer einfachen Welt gelebt. Ich war recht naiv in diesen Karrieresog geraten, stieg dann aufgrund meiner Leistungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit in die Wirtschaftselite auf und merkte bald, dass ich gegen mir wichtige Werte verstossen musste, um mich dort zu behaupten. Wer es in der globalen Wirtschaftswelt weit nach oben schafft, kann schnell reich werden, er kann aber auch den Bezug zur normalen Welt verlieren und sozial vereinsamen. Man sagt nicht zufällig, dass die hohen Löhne eine Art Schmerzens- und Schweigegeld sind.

Wie schafften Sie den Ausstieg?

Als die Unternehmensberatung von Ernst & Young auf Druck der USA ausgegliedert wurde, sprang ich ab und gründete mit einem Arbeitskollegen eine eigene Unternehmensberatung. Das Geschäft florierte sofort und ich konnte als Sanierer und Strategieberater elegant in die nationale Unternehmenswelt wechseln. Ich war zeitweilig auch in Linien- und Führungsjobs, ohne das eigene Unternehmen aufzugeben. Parallel dazu gab ich Tanzunterricht, leitete Hochsee-Segeltouren, legte als DJ Musik auf in Berner Clubs und fing wieder an, Lastwagen zu fahren.

Warum taten Sie sich das mit dem Lastwagenfahren an? Sie hätten auch ohne diesen Job mehr als genug zu tun gehabt.

In meiner Studienzeit fuhr ich jahrelang Lastwagen. Ich habe mich immer sehr wohl gefühlt unter den Lastwagenfahrern. Es war ein guter Ausgleich zur akademischen Welt. Die Kollegen sind bodenständig und direkt, manchmal sagen sie dir ins Gesicht, du seist ein «Tubel», aber eine Viertelstunde später sitzt man gemeinsam bei einem Bier. Dieser schnörkellose Umgang in einer von Maschinen und «harten Männern» dominierten Welt fasziniert mich – vielleicht weil ich so anders bin und in meiner Familie der starke Mann fehlte. (Hält inne) Und dann, vor fünf Jahren, wurde das Thema Familie plötzlich akut in meinem Leben.

Wie das?

Eines Tages erhielt ich eine E-Mail von einer jungen Frau aus Malaysia, die mir mitteilte, sie sei meine Halbschwester. Dadurch brach eine alte Wunde wieder auf. Ich war ja ohne Vater aufgewachsen, hatte ihn nach der Matura mit Hilfe des Roten Kreuzes gefunden und in Kuala-Lumpur kurz getroffen. Da ich nicht in sein Lebenskonstrukt passte, stellte er mich dort als Kunststudenten aus Europa vor und antwortete später auf keinen meiner Briefe. Meine Halbschwester fand fünfundzwanzig Jahre später auf seinem Sterbebett einen dieser Briefe mit meiner Adresse und nahm Kontakt auf mit mir.

Was löste das in Ihnen aus?

Ich setzte mich wenige Wochen später mit meiner Frau ins Flugzeug. In Malaysia brachen dann alle Dämme. Der schnelle, kühle, strategisch gewiefte Denker hatte plötzlich nichts mehr im Griff. Ich kam völlig ins Schleudern, als ich mich plötzlich in einer grossen Sippe wiederfand. Gefühle von Familienzusammengehörigkeit und vergangenem Schmerz überwältigten mich. Mein Vater war ein berühmter Künstler gewesen mit einem guten Draht zum Königshaus und einer Schwäche für Frauen. Ich begriff nicht wirklich, was mit mir geschah, eines aber war mir absolut klar: Ich konnte nicht weiterfahren wie bisher. Diese persönliche Krise wirkte sich auch auf die Beziehung zu meiner Frau aus, die auf dieser schicksalshaften Reise schwanger wurde. Unsere Beziehung und mein bisheriges Leben erschienen mir plötzlich kühl und leer. Es blieb wirklich kein Stein auf dem anderen.

Wie fanden Sie wieder Halt?

Mir war klar, dass ich externe Hilfe brauchte – und zwar solche, die nicht auf intellektueller Ebene ansetzte. So suchte ich einen Kinesiologen auf, der sich nicht für meinen überentwickelten Intellekt interessierte, sondern meine unterentwickelten Emotionen befragte. Daneben praktizierte ich intensiv Zazen, eine Meditation der Stille. Es lag auf der Hand, dass ich mein Arbeitspensum reduzieren musste, um den grossen Fragen in meinem Leben mehr Raum zu geben. Ich wollte nicht bis zur Pensionierung wie ein Irrer durchs Leben rennen, auf der Flucht vor mir selber. Weil mir mein lebenserfahrener Kinesiologe in dieser Hinsicht ein Vorbild war, entschloss ich mich, selber eine Kinesiologie-Ausbildung in Angriff zu nehmen und mich beruflich nochmals zu verändern.

Wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Ich bin in reduziertem Umfang im eigenen Beratungsunternehmen tätig, mache meine Ausbildung fertig und lerne viel über die Psyche. In meiner Praxis betreue ich Menschen, denen ich helfe, den eigenen Lebensweg und vor allem sich selber zu entdecken. Daneben unterrichte ich an der Hochschule als Strategieberater und fahre langsam meine vielen Nebenjobs herunter. Die Hälfte der Woche kümmere ich mich um meinen kleinen Sohn, da ich nun geschieden bin und unbedingt für ihn da sein will. Er soll nicht ohne Vater aufwachsen.

Was möchten Sie ihm mit auf den Weg geben?

(Lacht) Im Moment ist er wunschlos glücklich, wenn er neben mir Lastwagen fahren darf. Ich möchte ihm aber mit auf den Weg geben, dass es neben der intellektuell erfassbaren physischen Welt eine geistig-seelische Welt gibt, ohne die wir unsere Bestimmung nicht finden können. Ich habe dazu einen Fantasy-Roman geschrieben, der gerade in Druck geht und im September erscheint. Meine Kindheit und meine Erfahrung als Musterschüler in der glänzenden Welt des Materialismus lieferten den Stoff fürs Buch. Ich bin selber schmerzhaft ins Leere gelaufen und spürte am eigenen Leib, dass der materielle Erfolg das Herz nicht erfüllt. Ich glaube, es ist an der Zeit, die einseitige Dominanz des kartesianischen Weltbildes zu benennen und den Materialismus zu hinterfragen. Wenn es uns gelingt, die nicht-materielle Welt wieder zu integrieren, wird unser Leben reicher mit weniger Geld – und der überbordende Kapitalismus wird wieder verschwinden.

Hat sich Ihr Leben wieder beruhigt?

Vermutlich hat der Mangel an Selbstvertrauen und Geborgenheit dazu geführt, dass ich wie ein Besessener gearbeitet und den Erfolg gesucht habe. Dann lief das Business so gut, dass ich vor lauter Erfolg kaum mehr den Ausstieg fand. Erst durch die Krise fand ich näher zu mir und zu meiner Berufung, suchende Menschen zu begleiten und sie darin zu unterstützen, in ihre eigene Mitte zu kommen. Die Wogen haben sich noch nicht vollständig geglättet, ich sehe noch nicht ganz klar. Aber ich spüre, dass ich meiner Bestimmung in den letzten Jahren sehr viel näher gekommen bin.

Kontakt und Information:

www.innosphere.ch oder michael.treina@innosphere.ch

Teil 1 des Interviews ist vor einer Woche an dieser Stelle erschienen.

Das Buch: Michael Treina: Jo und der Kampf um die Zauberflasche. 160 S., 19.90 Fr. Brunner Druck und Medien. (Ab September 2013)

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5 Kommentare zu “«Der schnelle, kühle Denker hatte plötzlich nichts mehr im Griff»”

  1. ein sehr ehrlicher, persönlicher lebensbericht welcher hoffnung gibt. ich wünsche ihnen eine tolle zukunft und weiterhin mut sich selber zu sein!!

  2. Dor Arnold sagt:

    Wir leben in einer Welt, die besessen ist von Äusserlichkeiten. Wahrer Reichtum entsteht wenn Du beginnst zu erkennen was in deinem Leben wirklich wichtig und erstrebenswert ist. Ich denke, dass Herr Treina einen Weg gefunden hat, dass Trost, Freude, Glücklichsein in Dir selbst zu finden ist und nicht durch materielle Werte. Und mit dieser Gewissheit begegnet man dem Leben mit Demut und nicht nur mit Habgier.

  3. Yvonne sagt:

    Ein sehr gelungener und interessanter Artikel. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass sich diese Kehrtwendung nicht viele Arbeitnehmer leisten können, auch wenn sie wollen.

  4. Meret sagt:

    Das Buch ist flugs auf meiner Leseliste gelandet. Der Mann weiss, wovon er redet. Viele, die sich im Hamsterrad totlaufen, werden sich allerdings einen solchen Ausstieg finanziell gar nicht leisten können, da wohl die wenigsten (finanziell) so erfolgreich sind, wie Michael Treina es war.

  5. Walter Engelskind sagt:

    Fragen Sie mal den Müllmann, der täglich unseren Wohlstandsmüll wegschafft, ob er auch noch Träume hat im Leben. Vermutlich schon, aber die Rückenschmerzen und die Notwendigkeit der täglichen – hauptsächlich finanziellen – Lebensbewältigung lässt wenig Raum zum Philosophieren.
    Die materielle Welt etwas hinter sich zu lassen und sich mehr der spirituellen Seite des Lebens zuzuwenden hört sich gut an. Was aber gerne vergessen wird ist, dass man sich solche Gedanken erst dann leisten kann, wenn die finanzielle Basis für die alltäglichen, profanen Dinge gegeben ist. Diese wird sich Herr Treina erschaffen haben – sei es ihm vergönnt – er wird dafür gearbeitet haben, relativiert aber die Gedankenausflüge, die er sich so leisten kann.

    Walter Engelskind